Agile Beschaffung und Beschaffung agiler Projekte

 

Der Erfolgsfaktor für Projekte sind die Menschen und ihre Fähigkeiten, ein Produkt zu entwickeln und zu implementieren. Darum sollten auch die Menschen im Zentrum des Beschaffungsprozesses stehen – und nicht das Produkt. Ein Plädoyer für mehr Kooperation und weniger Spezifikation im Vergabeprozess.

 

Dieser Artikel ist im Original im ti&m special E-Government 2022 erschienen.

 

Was führt zu erfolgreichen Projekten? Wir glauben, es ist der Austausch zwischen den involvierten Parteien, also dem Beschaffer und dem Anbieter, die gemeinsame Verständnisbildung und die Klärung gegenseitiger Fragen. Agile Vorgehensweisen fördern und fordern diesen intensiven Austausch explizit. Warum sollten wir diesen dann nicht auch in der Beschaffung selbst fördern und fordern? Was hindert uns daran, unsere Energie, statt in lange Anforderungskataloge mit unzähligen fachlichen und technischen Spezifikationen zu verschwenden, in einen gemeinsamen Dialog zur Erkenntnisgewinnung und gegenseitigem Kennenlernen zu lenken? Wir sind der Meinung: nichts. Der Fokus in den Beschaffungen sollte sich ändern, damit sich Beschaffer und Anbieter möglichst früh kennenlernen und zusammen lernen können.

 

Agile – ein absolutes Trendwort

Um den Begriff «Agile» richtig einzuordnen, hilft das Cynefin-Model von Dave Snowden mit den vier Kategorien «simpel», «kompliziert», «komplex» und «chaotisch». Probleme, die noch nie gelöst wurden und deren bestmögliche Lösung daher unbekannt ist, gehören in die Kategorie «komplex». Hier ist der Weg die Lösung, oder zumindest ein Teil davon: Ideen werden iterativ ausprobiert, neue Erkenntnisse gewonnen und diese werden wieder ausprobiert, bis die gewünschte Situation erreicht ist – agil eben. Bei «simplen» Problemen eigenen sich andere Vorgehen wie planorientierte besser.

 

Doch was bedeutet agil im Kontext der Beschaffung und wie passt das zu einem öffentlich-rechtlichen Umfeld, in dem eher planorientierte Denkmuster dominieren? Die Kombination aus Agilität und Beschaffung führt zu zwei Begriffen, deren Unterschied man sich bewusst sein muss: «agile Beschaffung» und «Beschaffung agiler Projekte».

 

Eine agile Beschaffung ist die Durchführung der Beschaffung selbst nach agilen Prinzipien und Methoden. Sie ist durch offenen Dialog zwischen Beschaffer und Anbieter und durch kurze Lernzyklen geprägt und fokussiert auf die Zielerreichung des Bestimmbaren (bspw. eines Minimal Viable Product, der ersten minimal funktionsfähigen Version eines Produkts), regelt aber zugleich den zukünftigen Umgang mit dem Unbekannten, damit die Parteien gegenseitige Verbindlichkeit erhalten. Dieser Punkt spielt eine sehr zentrale Rolle und macht den Unterschied zu planorientierten Beschaffungen. Agile Beschaffungen bedingen, dass Agilität bereits vor der Beschaffung – bei der Identifizierung der eigenen Bedürfnisse, bei der Erstellung der Beschaffungsunterlagen und der Evaluation – eine wesentliche Rolle in der Arbeitsweise der Beschaffenden spielt. Und natürlich auch nach der Beschaffung, bei der eigentlichen Umsetzung des Projektes.

 

 

Grafik agile Beschaffung mit dem agile.agreement

 

 

Die Beschaffung agiler Projekte hingegen beschreibt eine Beschaffung, bei der ein komplexer Leistungsgegenstand mithilfe eines agilen Vorgehens wie bspw. Scrum umgesetzt werden soll. Dies bedingt ein Vertragswerk für das Projekt, welches erlaubt, mit der gewünschten Agilität, zu der auch eine Menge Ungewissheit gehört, kommerziell umgehen zu können. Diese Fälle bedingen keine agile Beschaffung, sie ist jedoch förderlich. Bei solchen komplexen Beschaffungen ist es für den Beschaffenden nahezu unmöglich, die beste Lösung oder die beste Vorgehensweise für sein Problem im Voraus zu kennen. Die zum Ergebnis führenden geis­tigen Leistungen wie Kreativität und Innovation sind hier wichtiger als das Ergebnis selbst. In den meisten Fällen ist das Ziel demnach die Beschaffung agiler Projekte.

 

In der Praxis vermischen sich die beiden Begrifflichkeiten «agile Beschaffung» und «Beschaffung agiler Projekte». Wir sprechen dann von sogenannten komplexen Beschaffungen, weil die effektive Herausforderung für den Beschaffenden darin besteht, dass die beste Lösung oder die beste Vorgehensweise für ihr Problem im Voraus nicht erkennbar ist. In diesen Fällen spielen die geistigen Leistungen der Anbieter resp. deren Fähigkeiten die zentrale Rolle. Denn ihre Leistungen basieren auf ihrer Kreativitäts- und Innovationskraft, wie bei der Entwicklung von Software. Aus unserer Sicht ist es dann nur konsequent, wenn die Gestaltung von der Beschaffung hin zum Projekt agil erfolgt. Nur so kann die Agilität von Beginn an richtig integriert und die künftige Lösung mit agilen Methoden erarbeitet und umgesetzt werden.

 

Fokus auf Kooperation

Wenn die Lösung des Problems unbekannt ist und somit das Endprodukt nicht in einem Anforderungskatalog genauer charakterisiert und beschrieben werden kann, wie erhält man dann die gewünschte Sicherheit, dass am Ende der Beschaffung auch das Produkt entwickelt wird, welches das Problem löst?

 

Indem der Fokus der Beschaffung nicht auf den besten Lösungsansatz, sondern auf den passendsten Partner gerichtet wird!

 

Die iterative Entwicklung der Lösung ist ein gemeinsamer Prozess, der viel Kommunikation und Zusammenarbeit erfordert. Und die funktioniert meistens am besten, wenn alle Involvierten ähnliche Arbeitsweisen, Vorstellungen der Zusammenarbeit und Werte haben. Bei einer öffentlich-rechtlichen Beschaffung sind viele Bestimmungen einzuhalten, die einen fairen Wettbewerb sicherstellen. Dadurch ist es nicht immer einfach, vor der definitiven Auftragsvergabe mit den verschiedenen Anbietern zu interagieren. Trotzdem gibt es mehr Möglichkeiten, als heute genutzt werden. So können moderierte Frageforen mit allen Anbietern veranstaltet werden, um offene Punkte schneller zu klären. Und statt reinen Anbieter-Präsentationen können Anbieter-Assessments oder sogar Proof of Concetps (PoC) durchgeführt werden, damit die Problemlösungsfähigkeiten und Denkansätze der Anbieter hautnah erlebbar werden. Und dann besteht auch noch die Möglichkeit des «Dialogs» (auch wettbewerblicher Dialog). Um das gegenseitige Verständnis und die Lösungsfindung zu verbessern, kann dieser bereits in einer frühen Phase des Vergabeverfahrens genutzt werden. Aus unserer Sicht eine hervorragende Möglichkeit, «Kooperation» bereits in der Beschaffung erleben zu können. Entgegen der landläufigen Meinung kann der Dialog sehr leichtgewichtig angewandt werden und ist nicht nur für grosse Vorhaben geeignet.

 

Fokus auf Kooperation – auch im Vertrag

Der wesentliche Bestandteil eines Vertrags, der eine agile Arbeitsweise fordern und fördern soll, bildet die Regelung der Zusammenarbeit – die Kooperation. Der Fokus liegt auf der Bildung von Vertrauen, indem Regeln der Zusammenarbeit wie gewünschtes Verhalten, der Umgang mit Ungewissheit und die Risikoverteilung gemeinsam besprochen, erarbeitet und definiert werden. Da bei einer agilen Beschaffung iterativ vorgegangen wird und das zu entwickelnde Werk erst mit der Zeit Gestalt annimmt, ist der herkömmliche Werkvertag nicht anwendbar. Definiert werden stattdessen die gemeinsame Lösungsvision, die Qualitätsmerkmale (bspw. DoR, DoD), Preis-/Leistungsmasse (bspw. Preis pro Story Point)und die Regelung der Zusammenarbeit. Für die einzelnen Iterationen (oder auch Sprints) kann jeweils definiert werden, was entwickelt werden soll. Basierend darauf ist es möglich, für jede Iteration einen sogenannten Mini-Werkvertrag abzuschliessen.

 

Agile Beschaffung und Beschaffung agiler Projekte mit dem Agile Agreement

Das Agile Agreement ist ein Framework, welches unser gesamtes Wissen zu agilen Beschaffungen vereint. Es regelt die drei Phasen einer ganzheitlichen Beschaffung (siehe Abbildung oben) und enthält Planungselemente und Vorlagen wie qualitative Kriterien- und Bewertungsmethoden, Anleitungen zur Durchführung von Anbieter-Assessments oder PoCs, Preismodelle für die Preisbildung agiler Projekte oder gesamte Rahmenverträge für die agile Entwicklung und den Betrieb.

 

ti&m special E-Government

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